Am 9. Februar 1923 wurde Andre Gorz geboren. Hier einige Gedanken zu seinem Werk:
“Die allgemeine Erkenntnis, dass Wissen zur wichtigsten Produktivkraft geworden ist, hat einen Wandel in Gang gesetzt, der die Gültigkeit der ökonomischen Schlüsselkategorien untergräbt und auf die Notwendigkeit hinweist, eine andere Ökonomie zu begründen”
Mit diesen Worten beginnt die 2004 erschienene, deutsche Ausgabe von “Wissen, Wert und Kaptial”. 2004 war auch das Jahr in dem wir bereits intensiv gegen die Einführung von Softwarepatenten in der EU kämpften.
Die Bedeutung der Wissensökonomie ist ja begründet in der zunehmenden Automatisierung - wichtiger als die Maschine ist der Bauplan, das Rezept und die Software.
Eigentlich sollten wir erwarten, dass die von Gorz eingeforderte Aufgabe (eine andere Ökonomie zu begründen) inzwischen in Angriff genommen worden wäre. Und ja, es gibt dazu vereinzelt Arbeiten, aber vielfach wird noch immer bestritten, dass sich besonders viel verändert hätte: So z.B.: in dem 2020 im renommierten Diez Verlag erschienen Sammelband Marx und die Roboter. Tenor dort in etwa: "Gehen sie weiter, es gibt nichts zu sehen - schon die Mikroeletronik in den 1970er hat zu keinen wirklich grundlegenden Veränderungen geführt."
Diese Ablehnung der Notwendigkeit über die Grundlagen unserer Ökonomie nachzudenken, findet durchaus Anklang. Einerseits in machen Teilen der dogmatischen "Linken", die immer noch Grundeinkommen ablehnt, aber insbesondere auch in weiten Teilen der Sozialdemokratie, in der man/frau noch immer dem Sozialstaat der 1970er nachtrauert, aber in der sich die Genossen immer noch gegen ein grundlegendes in Fragestellen des Kapitalismus wehren. Wie Žižek richtig erkannte: Die Sozialdemokratie ist inzwischen zu einer der konservativsten Kräfte überhaupt geworden.
Zu Beginn arbeitet Gorz die zwei, sehr unterschiedlichen Arten, in denen Wissen in der Wissensökonmie verwertet wird, heraus:
- Immaterielle Arbeit (“Humankapital”) - Lebendiges Wissen
- Wissenskapital (“immaterielles Kapital”) - Formalisierbares Wissen
Lebendiges Wissen - “Humankapital”
Gorz beschreibt hier, wie der moderne Kapitalismus immer mehr unser ganzes Menschsein - unsere Kommunikation, unser Alltagswissen, etc. benötigt und dazu beiträgt, damit unser Menschsein immer mehr in Richtung "Ich-AG" zu bringen und der kapitalistischen Verwertung zu unterwerfen - "Das Leben ist Business".
Gorz setzt das Grundeinkommen (dort noch "Existenzgeld" genannt) dieser totalen Unterwerfung unseres Lebens unter die ökonomischen Maßstäbe entgegen. Er macht dabei aber darauf aufmerksam, dass sich genau hier zwei Auffassungen entgegen stehen:
Die eine sieht das Grundeinkommen eben "als Mittel, das Leben den Warenbeziehungen und der totalen Selbstverwertung zu entziehen" (Gorz, WW&K . S 34) während auf der anderen Seite die Tatsache, dass unser gesamtes Leben zur Produktivkraft geworden ist, als Rechtfertigung für das Grundeinkommen genommen wird: Die Gefahr, auf die Gorz hier hinweist, ist, dass dann natürlich auch gefordert wird ".. dass sich die unsichtbare Arbeit tatsächlich so produktiv wie möglich auswirkt" (S.35).
Gorz zitiert hier aus den Grundrissen:
“Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andere Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebenen Maßstab, zum Selbstzweck macht?”— (Gorz S.25, MEW 42: 395)
(Siehe Auch: Erinnerung an André Gorz Stefan Meretz)
Kurz gesagt: das "bedingungslos" in "Bedingungsloses Grundeinkommen" ist extrem wichtig um zu verhindern, dass unser gesamtes Leben der kapitalistischen Verwertung untergeordnet wird.
Im Kapitel
Das "immaterielle Kaptial"
arbeitet Gorz heraus, wie versucht wird, dieses Wissen (der Kapitalismus nennt es heute eher "geistige Eigentumsrechte") dem Kapitalismus unterzuordnen. Gorz zitiert hier Rullani:
»Der Tauschwert des formalen Wissens ist also gänzlich an die praktische Fähigkeit gebunden, seine freie Verbreitung einzuschränken, d. h. an die Fähigkeit, mit rechtlichen Mitteln (Patente, Autorenrechte, Lizenzen, Verträge) oder durch Monopolisierung möglichst zu verhindern, dass die Kenntnisse anderer kopiert, nachgeahmt, ’wiedererfunden’ oder erlernt werden können. Mit anderen Worten, der Wert solchen Wissens rührt nicht aus dessen naturgegebener Knappheit, sondern allein aus den institutionell oder faktisch errichteten Zugänglichkeitsbegrenzungen. «(S.47 S. 48)
Neben dem "immateriellen Kaptial" das z.B. in Form von Software, Rezepten, etc. vorhanden ist, versucht der Kapitalismus natürlich auch das lebendige Wissen zu formalisieren und dadurch zu unterwerfen. Ein aktuelles Beispiel wären Normierungen, "Standardisierung" und entsprechende "Zertifizierungen".
Immaterieal = intangible
Gut beschreibt Gorz auch, wie sich die Verschiebung hin zu Immateriellem auf die Spekulationen der Börse auswirkt: Wenn sich die Werte der Unternehmen nicht mehr in ihren Sachwerten (die ohnehin "outgesourced" werden) finden, sondern in ihren Markenrechten, Kundenbeziehungen und Innovationspotential sind, dann ist es auch möglich, dass die Börsenwerte unabhängig von diesen "realen" Werten sind. Wie aus den platzenden Blasen ersichtlich: oft durchwegs "fiktive" Werte.
In vielen Bereichen sind es die Markenrechte, die einen großen Teil dieses fiktiven Kapitals ausmachen.
“Die Markenimageproduktion ist der blühendste und gewinnbringendste Zweig der immateriellen Industrie und die bedeutendste Quelle von Monopolrenten.” - S.(63)
Sehr aktuell sind auch die Überlegungen, wie sehr die kapitalistische Werbung immer auch politisch wirkt.
„Der per Definition individuelle Consumer wurde also von Anfang an als Gegenteil des Citizen begriffen, als Gegenmittel sozusagen gegen den kollektiven Ausdruck kollektiver Bedürfnisse, gegen sozialpolitische Forderungen“ (S.66).
und
"Individuelle Lösungen für kollektive Probleme [.. ] Sie betreibt eine antisoziale Sozialisierung". (S.66)
Gorz zitiert hier Robert Kurz (Schwarzbuch Kapitalismus):
“Die Formatierung nicht nur der äußeren Wünsche und Begierden, sondern auch der Gefühle, der Griff nach dem Unbewussten, enthüllt am deutlichsten den totalitären Charakter des Kapitalismus - und macht diesen Totalitarismus gleichzeitig unsichtbar, soweit der Zugriff gelingt” — (Gorz S. 69 - Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus S. 571)
Am Ende des zweiten Abschnitts (S. 71) vermittelt uns Gorz etwas Hoffnung: Das "Wissenskapital" ist letztlich eine Negation des Kapitals. Angesichts dessen, dass es nicht wirklich gelungen ist, der Ausweitung der so genannten "geistigen Eigentumsrechte" letztlich viel entgegenzusetzen, wirken die Worte eher deprimierend. 2005 konnten wir einen Erfolg gegen Software Patente erzielen - aber in den letzten Tagen hat der neue "Unified Patent Court (UPC)" dennoch seine Arbeit aufgenommen. Keine der Parlamentsparteien in Österreich hat sich dagegen gewehrt. Auch nicht die Grünen, die den Kampf noch 2005 unterstützt hatten. (Siehe auch: Software Patente durch die Hintertür? - EU-Rechtsverletzung durch das Unitary Patent)
Wissenskommunismus und Freie Software - 20 Jahre danach
“Der Wissenskapitalismus erzeugt in sich und aus sich heraus die Perspektive seiner möglichen Aufhebung. In seinem Innersten keimt ein kommunistischer Kern, eine "real existierende anarcho-kommunistische Ökonomie des Gebens"” - S.99
Wie ich auch immer argumentiere: Freie Software ist ein Beispiel dafür, dass Kooperation besser funktioniert als kapitalistische Konkurrenz. Das ist auch, was Gorz hier sieht. Eine Keimform für ein anderes Wirtschaftssystem.
Aber fast zwanzig Jahre später verwenden inzwischen fast alle Firmen sehr viel an Freier Software, aber der Kapitalismus hat es doch geschafft, trotz der eigenen Unzulänglichkeit dominant zu bleiben. Die Firmen haben gelernt, ihren Software Entwickler:innen eine lange Leine zu lassen: Sie dürfen ihren Code auf github mit anderen Teilen und sogar unter freien/commons/GNU Lizenzen, aber mit Supportverträgen, Marktmacht, Cloudangeboten und ein paar Patenten kann noch immer genügend verdient werden.
Mit der langen Leine spüren viele Entwickler:innen ihre Ketten nicht so stark, und damit ist auch der Impuls das System zu verändern, weniger stark. Eine Revolution aus dem Herzen der High-Tech Industrie ist heute weniger in Sicht als vor 20 Jahren, als wir gemeinsam gegen Software Patente in Europa rebellierten.
Dass die Überwindung der so genannten "geistigen Eigentumsrechte" noch immer ein sinnvolles Ziel wäre und das nicht nur zu einer gerechteren, sondern auch zu einer effizienteren Produktion führen würde, ist nach wie vor richtig. Aber angesichts der relativ langen Leine wird es weniger als dringliches Problem wahrgenommen. Und dass in diesem System nicht das umgesetzt wird, sehen wir am deutlichsten an der Untätigkeit angesichts der Klimakatastrophe: Wir rasen auf den Abgrund zu und nichts ändert sich. Wenn das nicht hilft unsere Welt zu verändern, dann wohl auch nicht die Effizienzgewinne durch mehr Kooperation.
Nichtsdestotrotz erscheint es mir wichtig gerade angesichts dieser Situation darauf hinzuweisen dass alternative Wirtschaft eben nicht träge bürokratische Planwirtschaft bedeutet sondern hochdynamische, effiziente Kooperation wie wir sie täglich im Bereich der freien Software sehen.
Mit der breiten Verfügbarkeit von 3D-Druckern, Lasercuttern, FPGAs und dem Trend zu OpenSource Prozessoren auf RISC-V Basis kommen wir auch in einen Bereich in dem die Wichtigkeit des Teilen von Code auch für die Materielle Produktion immer ersichtlicher wird.
AI und ChatGPT und die Grenzen zwischen lebendigem und formalisierbarem Wissen
Mit der Prominenz von KI seit dem Auftauchen von Dall-E2 und ChatGPT werde natürlich die Fragen rund um so genannte "geistige Eigentumsrechte" wieder aufgewirbelt. Politisch besteht hier die Chance mit den neuen technologischen Möglichkeiten auch neue ökonomische Spielregeln einzufordern.
Übrigens: Auch die Trennung dessen was Gorz (siehe oben) lebendiges und was formalisierbares Wissen bezeichnet hat sich damit, zwar nicht aufgehoben, aber sehr stark verschoben. Was noch vor kurzem als eindeutig lebendiges Wissen zählte ist nun auch in Form von KI Systemen formalisierbar.
Gorz geht darin im 4. Abschnitt ein. Siehe unten.
“Wissensindustrie [..] zielt auf die größtmögliche Substituierbarkeit der menschlichen Fähigkeiten ab, bis hin zur künstlichen Intelligenz und zum künstlichen Leben”. S. 106
Ein Plädoyer für das Grundeinkommen
Auf den Seiten 96 bis 103 finden wir eines der besten Plädoyers für ein bedingungsloses Grundeinkommen (Existenzgeld). Es geht genau darum den Raum für die (siehe oben) sinnvollen und effizienteren kooperativen Ökonomien zu machen die der Kapitalismus unterdrückt:
Hier nur einige Zitate:
“Die Existenzgeldforderung verweist im Grunde auf die
Notwendigkeit einer anderen Wirtschaft, auf das Ende des
Geldfetischismus und der Marktgesellschaft. Sie verkündet die
Hinfälligkeit der auf dem brüchigen Arbeitsfundament aufgebauten
politisichen Ökonomie und bereitet gewissermassen auf ihren
Zusammenbruch vor.” S.97. (Siehe auch: Solidarische Ökonomie und Freie Software)
“Wir wollen uns die Mittel verschaffen, Tätigkeiten zu entfalten, die unendlich bereichender sind, als das, worauf man uns
beschränkt” S.100
“Das vorhergehende Kapitel führte zur Einsicht, dass eine wirkliche Wissensgesellschaft ein Wissenskommunismus sein würde, in dem die Schöpfung von Reichtum gleichbedeutend wäre mit der freien allseitigen Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten, inklusive der Muße und Genussfähigkeit. Die freie Produktionsweise von Wissen würde in eine Gemeinwesensökonomie münden, deren gesellschaftliche Verhältnisse antithetisch zu den Geld-Ware-Wertverhältnissen der politischen Ökonomie des Kapitals stünden.” (S.105)
Enttäuschendes Letztes Kapitel - Ein Rundumschlag gegen Wissenschaft und Technik
Was Gorz bis dahin erarbeitet hatte, nämlich dass im Herzen des High-Tech Kapitalismus der Keim für seine Überwindung liegt wird im Letzten Abschnitt des Buches leider wieder vergessen. Das Kapitel liest sich wie ein Rant gegen Wissenschaft und Technik. Anstatt zu kritisieren wie sehr Wissenschaft und Technik unter kapitalistischen Verhältnisse gegen uns gerichtet werden wird hier oftmals gegen Wissenschaft und Technik an sich gewettert. Angefangen mit der Bool’schen Logik!
An wenigen Stellen kommt die richtige Botschaft aber doch durch. z.B.:
“Denn wenn es für das Kapital ausgeschlossen ist, sich von seiner Abhängigkeit gegenüber der Wissenschaft zu befreien, so besteht für die Wissenschaft die Aussicht, sich vom Kapitalismus zu emanzipieren”. S. 122
Die Entwicklungen in Richtung Künstlicher Intelligenz hält Gorz für eher übertrieben:
“Wahrscheinlich wird sich ein Großteil der postbiologischen und posthumanen Prohezeihungen als infantile Fantasmen enthüllen und die künstliche Intelligenz und das künstliche Leben nicht die dystoopischen "Versprechungen" halten, die ihre Pioniere in sie legen”. S. 136
Ich fürchte (und angesichts von ChatGPT & Co sollte das wohl inzwischen relativ offensichtlich sein) dass die Prohezeihungen durchaus realistisch waren und dass das dystopische Potential angesichts der kaptialistischen Verhältnisse in denen dern Entwicklung leider mehr als real sind.
Angesichts dieser Bedrohungen ist es jetzt wichtig sich auf das zu konzentrieren was Gorz im ersten Teil des Buches erarbeitet hat. Wir brauchen ein bedingungsloses Grundeinkommen und wir brauchen es schnell. Wir müssen Technik und Wissenschaft aus den Zwängen dieser kapitalistischen Todesmaschine befreien. Den Keim des Wissenskommunismus den diese Welt in sich trägt gilt es zum nähren.
Wissenschaftllichter und technischer Fortschritt sind nicht einfach neutral sondern immer geformt von den gesellschaftlichen Umständen. Anstatt eines Rants gegen Logik, Abstraktion und Wissenschaft wäre es gut gewesen auch in diesem Kapitel das emanzipatorische Potential herauszuarbeiten.
“Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.
Aber dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktivität gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen.
Somit sind diese Ideen, diese Kategorien, ebensowenig ewig wie die Verhältnisse, die sie ausdrücken. Sie sind historische, vergängliche, vorübergehende Produkte.
Wir leben inmitten einer beständigen Bewegung des Anwachsens der Produktivkräfte, der Zerstörung sozialer Verhältnisse, der Bildung von Ideen; unbeweglich ist nur die Abstraktion von der Bewegung - "mors immortalis".”
Marx in MEW 04:125 "Das Elend der Philosophie"
Franz Schäfer (Mond), Februar 2023.
ANDAS.CC Sammlung von Links zum 100. Geburtstag von André Gorz